Kommission Palliativmedizin

Über die Kommission

Neue Wege für alte Menschen mit hoher Krankheitslast und Nierenversagen.
Vor nicht langer Zeit wurde der Dokumentationsbogen für Patienten, die mit Nierenersatztherapie behandelt werden, verändert. Es heißt da jetzt, zu welchen Behandlungsmöglichkeiten wurden dem Patienten Informationsgespräche angeboten? Diese Optionen schließen auch ein Vorgehen ohne Nierenersatztherapie ein! Diese neue Entscheidungsmöglichkeit ist bisher wenig bekannt. Der Prozess dahin wurde in Deutschland unter anderem mit verschiedenen Publikationen vorbereitet in der Zeitschrift Nieren Hochdruckkrankheiten unter dem Titel „Palliative Nephrologie I-III“ und dem Buch von Pommer und Thumfart. Natürlich gibt es im Leben kein Ende ohne Schrecken. Allenfalls Annäherungen an dieses Ziel. Dafür gab es früher die Strategie der ars moriendi, heute Patientenverfügung und advanced care planning. Wenn das Ende näher rückt, möchten die meisten genauer erfahren, was ihnen bevorsteht! In kaum einer verfassten Patientenverfügung steht: Dialyse, ja unbedingt, das will ich, egal was kommt! Und trotzdem ist der Anteil von Menschen im hohen Lebensalter, die neu zur Dialyse vorgeschlagen und so behandelt werden, besonders hoch und stetig steigend. Viele von ihnen sind naturgemäß multimorbide.

Ahnungslosigkeit über die düstere Prognose. Amerikanische Daten.
Wenn die davon Betroffenen wüssten, was 2009 erstmalig darüber publiziert wurde, dann würden viele ihre Einwilligung verweigern. Vor Dialysebeginn wird üblicherweise versprochen, dass sich die Lebensqualität und die noch offene Lebenszeit durch die spezifische Behandlung verbessert. Aber dies scheint gar nicht immer so zu sein! Denn es konnte für Altenheimbewohner mit dialysepflichtiger Niereninsuffizienz in Amerika gezeigt werden, dass sich kaum Lebensqualität verbessert, noch Lebenszeit verlängert. Denn nach drei Monaten waren schon ein Viertel, nach einem halben Jahr die Hälfte der Betroffenen verstorben! Und der funktionelle Status war bei der Mehrzahl erschreckend verschlechtert. Dass diese Veröffentlichung eine Erschütterung in der Dialysewelt bedeutete, liegt nahe. So schrieben denn auch die Editoren einen klaren Kommentar: der Verzicht auf Nierenersatztherapie sei eine gute Option, Patientenziele besser umzusetzen. Und, dass wir uns mehr darum bemühen müssen, die Betroffenen über Prognoseerwartung und Lebensqualität für ihre Überlegungen vor einer Entscheidung zu informieren. Das gilt auch heute, mehr als 10 Jahre später unverändert weiter. Kritisch muss man bemerken, dass bei der Diskussion zu dieser Untersuchung vergessen wurde, zu erörtern, wie denn die Überlebensaussichten sind von Menschen, die neu ins Altenheim kommen, ohne terminal nierenkrank zu sein.

Warum also Dialyse auch bei komplex kranken, alten, hochaltrigen Menschen?
Eine schwierige Frage. Stecken dahinter ökonomische Interessen [4]? Einerseits werden in letzter Zeit immer mehr Dialyseeinrichtungen aufgekauft von gewinnorientierten Großunternehmungen. Und andererseits mögen Ärzte Gespräche über die Prognose der Betroffenen ungern führen, weil sie fürchten, mit den Emotionen, die darauf folgen, nicht angemessen umgehen zu können. Natürlich gibt es dafür auch kaum Zeit. 90 Prozent der Menschen in dieser Lebenssituation erwarten Informationen zu ihrer Prognose, aber 10 Prozent erhalten sie. Es wird berichtet, dass wenn die Lebenserwartung länger als ein Jahr wäre, die Betroffenen auch therapieabhängige Einschränkungen in Kauf nähmen, was für Dialyse im höheren Lebensalter mit Komorbiditäten sicher zu erwarten ist.

Bessere Prognose in Europa. Daten aus England und Deutschland.
Amerika ist nicht Europa. In England wurde schon 2003 in einer kleinen Kohortenstudie untersucht, wie sich die Entscheidung für oder gegen eine Nierenersatztherapie auf Überlebensdauer und Lebensqualität bei komplex Kranken auswirkte. Und es heißt in der Zusammenfassung, dass Dialyse keinen oder kaum einen positiven Einfluss auf das Überleben hatte und daher eine unnötige Medikalisierung des Sterbens sei [6]. Einige Jahre später veröffentlicht die gleiche Arbeitsgruppe neue Daten mit weiteren Argumenten gegen die Entscheidung für Nierenersatztherapie bei komplex kranken, alten Menschen [7]. Diese Arbeit verdeutlicht offensichtlich, dass komplex kranke, alte Menschen mit Nierenversagen von Dialyse nicht profitieren. Aber es wird auch klar, dass „gesündere“ alte Menschen mit Nierenersatztherapie deutlich länger leben können als ohne! Immer wieder stellt sich die gleiche Frage: wie können wir die einen von anderen so gut wie möglich unterscheiden? In Deutschland wurde eine Studie mit dem Namen „Elderly“ mit über 2500 Patienten ausgeführt, die die Frage stellte, wie die Überlebenszeit und Lebensqualität hier bei alten Menschen, ist die mit Nierenersatztherapie behandelt werden. Das Ergebnis war sehr viel positiver als in der Vereinigten Staaten. Selbst bei komplex kranken Menschen betrug die Mortalität nach zwei Jahren 34%. Auch die Lebensqualität war viel positiver.

Erklärungsversuche für die Unterschiede der Kontinente
Also können in Deutschland und England die US-amerikanischen Daten und ihre Deutungen nicht pauschal übernommen werden. Obwohl dies in einer deutschsprachigen Zeitschrift so zusammengefasst wurde; dass nämlich Nierenersatztherapie im höheren Lebensalter bei über achtzig Jährigen oder bei schwerer Komorbidität nicht empfohlen werden kann [9]. Wesentlich ist, dass Dialyse und nephrologische Therapie eben nur Nierenversagen, Salzimbalancen, Überwässerung, Anämie, Azidose und Hypertonie, aber nicht andere Komorbiditäten behandeln kann. Abgesehen davon, dass durch die engmaschige Kontrolle bei Kontakten dreimal/Woche durch das Dialyseteam auch die Begleiterkrankungen der Betroffenen sicher beachtet und behandelt werden. Wer ist schon so oft in ärztlicher Obhut? Dazu aber gibt es leider keine Untersuchungen. Hieraus könnte auch der Unterschied resultieren, der sich beim Vergleich der Mortalitätsdaten aus Amerika und Europa ergibt. Hier sind immer noch regelmäßig die ärztlichen Visiten bei jeder Dialyse üblich. Und dabei werden sicher auch die Komorbiditäten berücksichtigt.

Die herausragende Rolle der Prognosebeurteilung für den Entscheidungsprozess
Die Entscheidung in dieser immer sehr schwierigen Situation hängt also ganz entscheidend von der Prognoseerwartung ab, also neben dem biologischen Alter von den Begleiterkrankungen. Wie kann dies so richtig, individuell angemessen und neutral wie möglich erfasst werden? Dazu brauchen wir neben „Instrumenten“ vor allem Zeit, Empathie, Erfahrung und gute Kommunikation, auch mit dem Umfeld und den Mitbehandlern. Mehr also, als realistisch möglich. Immerhin gibt es erste Schritte, dass für Menschen in stationären Einrichtungen advanced care planning über SGB V Leistungen institutionalisiert wurden. Sonst sind wir zur Zeit auf Scores angewiesen. Die beste Zusammenstellung hierzu ist von der Arbeitsgruppe um Farrington veröffentlicht worden. Es werden hier das Sterblichkeitsrisiko, gemessen mit dem BANSAL-Score und die Wahrscheinlichkeit, wie schnell sich die Nierenfunktion verschlechtert, gemessen mit dem KFRE-Score, gegenüber gestellt. Auch die Gebrechlichkeit wird berücksichtigt. Mit Hilfe dieser Algorithmen, die über http://touchcalc.com/calculators/sq) abgerufen werden können, sollten die Betroffenen über ihre Prognose und die Geschwindigkeit der fortschreitenden Niereninsuffizienz informiert werden. So, wie es seit Kurzem in dem Dokumentationsbogen nach Dialysebeginn gefordert ist. Leider ist dies aber inhaltlich nicht weiter gefüllt und erfolgt erst nach Dialyseeinleitung! Denn auf einer möglichst rationalen Basis sollte rechtzeitig vor dem Beginn einer Nierenersatztherapie eine gemeinsame Entscheidung über das weitere Vorgehen getroffen werden. Es wird ein zusätzlicher Algorithmus aus einer französischen Arbeit erwähnt, der das Risiko, innerhalb von 6 Monaten nach Dialysebeginn zu versterben, beschreibt. Dies ist sicher sehr sinnvoll und nötig, um solche Mortalitätsraten und Verschlechterungen der Lebensqualität, wie in der Arbeit von Tamura (1) dargestellt, trotz Dialysebeginn, zu vermeiden. Schön wäre es, wenn neben den epidemiologisch fundierten Algorithmen auch individuelle, biologische Informationen verfügbar wären. Es kann sein, dass dies bald mit Hilfe der wiederholten Messung von Dickkopf-3 im Urin möglich wird. Die vorhandenen Daten hierzu machen deutlich, dass uDKK3 Menschen mit einem hohen Progressionsrisiko identifizieren kann. Vermutlich wird es nicht mehr lange dauern, bis wir hierdurch einen individuellen, biologischen Progressionsfaktor nutzen können, um das spezifische Progressionsrisiko besser bestimmen zu können.

Fraglicher Nutzen der Nierenersatztherapie bei gebrechlichen Alten
Was ist also der Nutzen von Nierenersatzverfahren für gebrechliche Ältere bei einer glomerulären Filtrationsrate < 15 ml/min, also Stadium CKD 5. Dafür ist ihr Nutzen gegenüber einem konservativen Vorgehen nicht bewiesen. Sicher ist leider auch, dass wir bisher alle Kenntnis nur aus Beobachtungsstudien, nicht aber aus geplanten, kontrollierten Untersuchungen haben. Immerhin gibt es eine Metaanalyse zu 11 solcher Studien, die 1718 Patienten einschlossen. Es zeigte sich, dass in diesem Kollektiv die Wahl für Dialyse die Last der Nierenkrankheit auf das tägliche Leben im Verlauf ansteigen ließ. Die Menschen, die sich für den konservativen Weg entschlossen hatten, empfanden eine ähnliche Lebensqualität wie die Dialysierten. Aber es heißt natürlich auch, dass wir dringend qualitativ sehr gute und prospektive Studien brauchen, um diese unsicheren Befunde zu klären. Wir brauchen also freundlichere, wahrhaftigere und strukturierte Werkzeuge und Umgangsformen, um mit Betroffenen und Angehörigen realistisch in den Prozess einer gemeinsamen Entscheidungsfindung hineinzukommen. Hierbei steht die zu erwartende Prognose im Zentrum. Aber es fehlt dabei immer noch an allgemein akzeptierten prognostischen Instrumenten. Denn nur in Kenntnis darüber ist eine justitiable Einwilligung zu einem medizinischen Eingriff möglich. Dazu müssen wir die aktuell bestverfügbaren Konstrukte, also die Scores „BANSAL, KFRE und REIN“ nutzen. Vermutlich wird bald auch eine individuelle, biologische Messgröße wie Dickkopf-3 im Urin hinzukommen. Für den Fall, dass Dialyse nicht mehr das halten kann, was üblicherweise anfangs versprochen wird, nämlich Verlängerung der Lebenszeit bei besserer Lebensqualität, ist ein konservatives Vorgehen ein neuer Weg. Sicher ist, dass damit nicht ein Versterben in kürzester Zeit bei guter konservativer Behandlung zu befürchten ist. Inhaltlich ist eine solche Therapie nicht unterschieden von den allgemeinen Maßnahmen zur Progressionsverlangsamung der Niereninsuffizienz. Aber eine angemessene palliative Betreuung können Nephrologen und ihr Team allein nicht leisten. Hier sind neue, übergreifenden Strukturen erforderlich und daran wird gearbeitet. Es mag genug Daten geben, um zu behaupten, dass eine konservative Betreuung ohne Dialyse auch eine lebbare Behandlungsoption für alte, gebrechliche Menschen ist. Wenn eine solche Behandlung gelingt, dann wird nicht, wie durch Dialyse öfter, Lebensqualität einschränkt, mehr Intensivmedizin exerziert und der Sterbeort häufiger ins Krankenhaus verlegt. Die Option, dass neben Dialyse auch konservatives Handeln im Angesicht der schlechten Prognose ein Weg ist, der mit den Patientenzielen sogar besser vereinbar ist, muss deutlich vor der Notwendigkeit einer Nierenersatztherapie angesprochen werden.

Mitglieder

Dr. Fiita Romero, Würenlingen (CH); Prof. Sylvia Stracke, Greifswald; Prof. Elke Schäffner, Berlin; PD Natalie Ebert, Berlin; Dr. Thore Gamer, Berlin; Prof. Dr. Wolfgang Pommer, Potsdam; Dr. Linus Völker, Köln

Palliative Versorgung in der Nephrologie

  • Beitrag von Prof. Dr. Peter Maria Rob auf der 13. Jahrestagung der DGfN 2021 im Lectures Collection Nephrology
  • Palliative Versorgung von krebskranken Nierenpatienten. C. Gerhard. Nephrologe. 2020; 15: 30-34.

Material

Kharbanda et al. BMC Nephrology (2021) 22:282 https://doi.org/10.1186/s12882-021-02461-4 mehr...

Nephrology Dialysis Transplantation, Volume 36, Issue 8, August 2021, Pages 1418–1433, https://doi.org/10.1093/ndt/gfaa078 mehr...

Am J Kidney Dis. 2020 Feb;75(2):153-154. doi: 10.1053/j.ajkd.2019.08.021. mehr...

JAMA Intern Med. 2019 Mar 1; 179(3):305-313. doi: 10.1001/jamainternmed.2018.6197. mehr...

Axelsson Lena, Benzein, Eva, Lindberg, Jenny, Perrson, Caarina; in Nursing Ethics 2020, Vol. 27 (2), 419-432. mehr...

Benjamin R. Griffin, Kathleen D. Liu, and J. Pedro Teixeira mehr...